Der Flüchtling. Dienstleistungen an Unerwünschten

Internationale Mobile Akademie 

Volksbühne am Rosa- Luxemburg- Platz. Berlin. 2002

Eine Installation von Anselm Franke und Hannah Hurtzig in Kooperation mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, der Akademie der Künste und KW, Berlin

Eine Installation mit Erfahrungsberichten, Analysen aus der Praxis und einzelnen Fallstudien. Ein nicht hierarchischer Gesprächs- und Informationsraum, in dem sich die Vorstellungskraft trainieren ließ, nicht nur an imaginäre Charaktere, sondern auch an die Wirklichkeit von unbekannten Menschen zu glauben.

Die Fluten kommen über das Weltmeer und überschwemmen unsere Länder

Die Schreckensbilder des Flüchtlings als gesichtlose, anonyme Masse beschwören gerne Naturmetaphern. 

Aber schon jeder einzelne Flüchtling scheint eine bedrohliche Figur. Seiner entorteten, entrechteten Existenz, reduziert auf das nackte Leben, haftet ein Etikett des Barbarischen an. Der Flüchtling sprengt die grundlegende Vereinbarung unserer Zivilgesellschaft: den unverbrüchlichen Zusammenhang zwischen Menschsein und Bürgertum. In der Figur des Flüchtlings manifestiert sich ein ständiger Ausnahmezustand im Rechtsstaat. Eine marginalisierte Gruppe wird zum entscheidenden Faktor der Krise des modernen Nationalstaates und zu einer politischen Schlüsselfigur.

Der Flüchtling hat keinen Platz in der Bürgergesellschaft, die Vollmitgliedschaft wird ihm verweigert (es sei denn als ökonomisch einkalkulierbare Masse der Saisonarbeiter).  

Er bleibt weitgehend unsichtbar, fällt aus der öffentlichen Wahrnehmung und deren Repräsentationsmodellen heraus (solange sich nicht eine Benetton Kampagne o.ä. seiner zu Imagezwecken annimmt). Gleichzeitig fixiert der Flüchtling eine Topographie der Ordnungsinstanzen, Kontroll- und Überwachungsorgane und militärischen Zurichtungen: Er markiert die Orte einer legalisierten Rechtlosigkeit. Der Ausnahmezustand, in dem sich jeder Flüchtling befindet, der ihn gleichzeitig kontrolliert und neutralisiert, ihn im selben Moment ein- und ausschließt, verweist auf den neurotischen Gestus, mit dem die Zivilgesellschaft ihre obsolete Ausgrenzungspolitik verteidigt.

Die Veranstaltung Dienstleistungen an Unerwünschten zeichnet eine verborgene Geographie nach, innerhalb derer sich die Figur des Flüchtlings bewegt. Eingeladen sind ExpertInnen, die sich im Berufsalltag mit Flüchtlingen auseinandersetzen – Anwälte, Reporter, Sozialarbeiter, Aktivisten oder Theoretiker. Die Gespräche zwischen den ExpertInnen behandeln Themen der globalen Migration und deren Fluchtursachen, der Herstellung medialer Bilder des Flüchtlings, der Trauma- Therapien, des Grenzregimes und Polizeiaktionen, der rechtsphilosophischen Reflexion, der Selbstorganisation von Flüchtlingsinitiativen, der Diskurse von Hannah Arendt und Giorgio Agamben zur Figur des Flüchtlings, etc. Es sind Erfahrungsberichte, Analysen der Praxis, einzelne Fallstudien, die das Thema erzählend verhandeln, jenseits der vorherrschenden medialen Repräsentation und Bilderproduktion.

Die einstündigen Dialoge und von verschiedenen AutorInnen kommentierten Filme in den Ladenlokalen und Gebäuden der Neustadt können vom umherwandernden Publikum über Kopfhörer verfolgt werden, in dem es sich über verschiedene Kanäle in die simultan stattfindende Gespräche einschalten kann.

Die Veranstaltung inszeniert in der theatralen Kulissen der Neustadt einen unhierarchischen Gesprächs- und Informationsraum, ein fiktionalisiertes urbanes Leben, in dem sich die Vorstellungskraft trainieren lässt nicht nur an imaginäre Charaktere, sondern auch an die Wirklichkeit unbekannter Menschen zu glauben. 

«Dienstleistungen für Unerwünschte» ist Auftakt einer Serie von Veranstaltungen von Tulip House Inc., die dem Motto der NeuStadt folgend «Es gibt ein richtiges Leben im Falschen», thematische Untersuchungen der Wirklichkeit durch Begegnungen realer Menschen in der Kulissenstadt vorstellt.

Hanna Hurtzig und Anselm Franke

Mit

Veronika Arendt-Rojahn, Rechtsanwältin und Notarin, Berlin

Rashad Becker, Scheinselbständiger, Berlin

Jochen Becker, Autor, Kurator, Berlin

Dr. phil. Angelika Birck, Psychologin und Mitarbeiterin des Behandlungszentrums für Folteropfer, Berlin

Dr. Jochen Blaschke, Direktor des Instituts für Vergleichende Sozialforschung, Berlin

Christian von Börries, Musiker, Dirigent, Berlin

Friedhelm Brebeck, Fernsehjournalist u.a. in Krisengebieten, München

Heiner Busch, Journalist, Polizeiexperte, Hg. und Redakteur der Zeitschrift «Bürgerrechte und Polizei», Bern/Berlin

Madjiguène Cissé, Autorin und ehem. Sprecherin der Bewegung Sans Papiers, Trägerin der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte, Dakar

Georg Classen, Flüchtlingsrat Berlin 

Harun Farocki, Filmemacher, Berlin

Galerdene Tsegmeg, jugendlicher Flüchtling, Mongolei

Hubert Heinhold, Rechtsanwalt, München

Karin Hopfmann, Dipl.-Philosophin, Flüchtlingspolitische Sprecherin der PDS-Fraktion, Berlin

significans.skin marker – Mischungsverhältnisse und Rassismen

Ein mobiles Farblabor der AG significans. Berlin 

Stationen

INTERNATIONALE MOBILE AKADEMIE, Volksbühne Berlin 2002

Belluard Bollwerk International 2003, Fribourg-CH

go create resistance, Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Die Künstlerinnen- und Aktivistinnengruppe significans startete im Oktober 2002 anlässlich der INTERNATIONALEN MOBILEN AKADEMIE in der Berliner Volksbühne die Aktion skin marker. 

Theatergäste wurden gebeten, in einer Laborkammer den exakten Farbton eines markierten Hautausschnitts am Unterarm anzumischen. Den Probanden stand eine Palette Acrylfarben und die Unterstützung einer Farbberaterin zur Verfügung. Der ausgetüftelte Farbton wurde sodann auf eine Probandentafel aufgemalt und die Farbmischungswerte digital analysiert. Das Berliner Theaterpublikum war eingeladen, über Kopfhörer den Gesprächen während des Anmischens im Farblabor zu folgen. 

Können Sie Ihre Hautfarbe genau beschreiben? Gelingt es Ihnen, sie aus verschiedenen Grundtönen anzumischen? Sind Sie mit Ihrer Hautfarbe zufrieden? Welche Erlebnisse hatten Sie mit Ihrer Haufarbe? Unternehmen Sie etwas, um Ihren Hautton zu verändern, lassen Sie sich z.B. von der Sonne bräunen, falls Sie sich zu blass fühlen – Wie dunkel möchten sie dabei werden? Wann wär’s zuviel und warum? Denken Sie, dass Ihre Hautfarbe Ihre Chancen bei einem Bewerbungsgesprächen beeinflussen könnte? Haben Sie Freunde oder Bekannte, die eine andere Hautfarbe haben?…..Falls nein, warum nicht?

Anschließend wanderte skin marker nach Fribourg/CH zum Belluard Bollwerk International Festival BBI 2003 und 2004 zum Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, zum Themenabend Migration und Arbeitgo create resistance. Auf einer zufälligen Route quer durch Europa sollen weiterhin Hautfarbentafeln gesammelt werden, damit die Diskussion eine Kontinuität erhält:

Die Gespräche, die sich während des Anmischens entwickeln, geben Auskunft über Erfahrungen mit der eigenen Hautfarbe, über Wünsche, über Einschätzungen und Vergleiche mit dem Andersfarbigen. Nuancen unserer Selbst- und Fremdidentifizierung werden deutlich: Wertungen, die Freundschaften anzetteln und andere, die diskriminierend und rassistisch verletzen können. Gleichzeitig wächst eine brüchige Skala, ein zufälliger Querschnitt der verschiedenen Hautfarben, die uns in den Städten begegnen. Die Farbtafeln wurden erstmals 2003 im Fribourger Mottabad ausgestellt.

Die Malerei ist eine Zusammenfassung, ein stummes, visualisiertes Protokoll der Gespräche, die beim Anmischen stattfinden. Hautgeschichten also, die sich immer wieder aus dem kleinen, individuellen und intimen Rahmen wegschleichen und sich an Weltgeschichte andocken: 

Die Hautfarben des Welthandels, der Bruttosozialprodukte, der Moden, die Hautfarben eines kontinuierlichen Kolonialismus, des Landraubes, die Hautfarben des Beats, der Nobelpreisträger/innen, die Hautfarben der Behörden, der Schulhöfe, die Hautfarben nach der Wirtschaftskrise, Mischungsverhältnisse und Rassismen, darüber möchte significans weiter spekulieren.

significans existiert seit 1999. Künstler/innen, Kulturwissenschaftler/innen und Journalist/innen recherchieren über den Einsatz elektronischer Überwachungstechniken und biologistischer Identifizierungstechniken im Anwendungsbereich der Ausländerbehörden. 

www.significans.de

Christiane Hamacher, Berlin und Bern. CH;   Carolina Kecskemethy, Lima und Berlin;   Barbara Meyer, Luzern und Berlin; Hanna Sjöberg, Stockholm und Berlin